Vielleicht erinnern sie sich noch an die gute alte Zeit. Als man verbleites Benzin in sein Auto tankte, danach rauchend einstieg und seine unangeschnallten Kinder von A nach B führte. Wenn sie frech oder einfach nur lästig waren, war „a g‘sunde Watschn“ völlig okay, die Deckenverkleidungen in den Amtshäusern waren voller Asbest und aus den Schulen drang der Mief einer 1950er-Jahre-Pädagogik.

Heute wurde im Nationalrat das so genannte „Pädagogik-Paket“ der Bundesregierung beschlossen. Der Vizekanzler der Republik spricht davon, dass damit endlich die „linken Experimente“ in der Bildungspolitik beendet würden. Damit ist zwar das Blei aus dem Benzin verbannt, die Watschn verboten, der Asbest aus den Deckenverkleidungen verschwunden, doch der Mief ist in die Schule zurückgekehrt.

Es ist ein Mief der Einteilung, Ausgrenzung und Schubladisierung von Kindern. Von lebendigen, vielfältigen und lernenden Wesen, die sich in unterschiedlichen Bereichen unterschiedlich schnell entwickeln. Es geht darum, diesen Kindern einen Stempel aufzudrücken. Sie aufzuteilen in gute und in schlechte, in dumme und schlaue, in chancenreiche und chancenlose.

Das beste Beispiel hierfür ist die Ziffernnotenpflicht: Ab jetzt MÜSSEN die Lehrer/innen ab der zweiten Klasse Volksschule Noten von Sehr gut bis Nicht genügend vergeben. Wenn sie nicht gut genug sind, bleiben sie einfach sitzen. Nur falls das irgendjemandem nicht klar ist: Es geht hier um siebenjährige Kinder. Wir Kinderfreunde arbeiten sehr intensiv mit Kindern dieser Altersgruppe und wir wissen aus einer 110-jährigen Erfahrung, dass man ein Kind in diesem Alter nicht mit einer Zahl bewerten kann. Jeder und jede kann manche Dinge gut und manche Dinge schlecht. Gerade bei Kindern kommt es vor, dass sie sich in gewissen Bereichen früher entwickeln als in anderen. Wenn das jedoch in der Schulzeit so ist, dann hat das Kind leider Pech gehabt. In der Volksschule schon sitzen geblieben? Ein Vierer im Zeugnis der dritten Klasse? Schade. Mit dem Gymnasium wird das nichts mehr. Der Stempel ist drauf, die Schublade gefunden, die Würfel gefallen.

Unser Ansatz ist ein anderer. Die Schule ist nicht dazu da, bestehende Startunterschiede einzuzementieren, sondern sie auszugleichen. Jedes Kind hat Potenziale, die es zu entfalten gilt. Es gibt Kinder, die können schon mit sieben Jahren großartig Kopfrechnen, tun sich aber mit dem Schreiben schwer. Regierungslogik: Kind hat ein Defizit, Kind bleibt sitzen. Wir sagen: Fördern wir das Kind, vermitteln ihm den Spaß am Rechnen und geben wir ihm parallel dazu die Zeit, auch beim Schreiben aufzuholen. Im Mittelpunkt steht dabei das Potenzial, nicht das Defizit. Wir wollen Kinder nicht abstempeln und in eine Schublade stecken, sondern ihnen helfen, ihr Potenzial zu entfalten. Das geht nicht mit A- und B-Zug, das geht nicht mit verpflichtenden Ziffernnoten, das geht nicht mit Sitzenbleiben. Das geht, indem man auf die Stärken und Schwächen jedes einzelnen Kindes eingeht und ihnen dabei hilft, sich nach ihren Interessen und Leidenschaften zu entfalten.

Eigentlich ist auch alles klar: Wie beim Blei und beim Asbest wissen wir heute auch im Bildungsbereich mehr als wir früher wussten. Dass diese Stoffe ungesund für den menschlichen Körper sind, wissen wir heute aus wissenschaftlicher Evidenz. Ebenso wissen wir, dass Kinder durch Begeisterung lernen. Dass es nichts bringt, Kinder sitzen bleiben zu lassen. Dass Bildung heute in Österreich vererbt wird und oft nur sehr wenig mit den tatsächlichen Talenten und Potenzialen der Kinder zu tun hat. Oder dass man den Lernfortschritt  von Siebenjährigen nicht mit einer fünfstufigen Skala beschreiben kann. Wir wissen das und deswegen kämpfen wir seit Jahrzehnten für eine Schule ohne Angst und Zwang, die sich an den Bedürfnissen der Kinder orientiert und ihren optimalen Lernerfolg als oberstes Ziel hat.

Für jemanden wie Strache mag das nach linken Experimenten klingen, weil er sich eine Welt des verbleiten Benzins und der Asbestdecken zurückwünscht, in der manche Kinder einfach auf der Strecke bleiben, wenn sie zu einem gewissen Zeitpunkt nicht in das System der Schule hineinpassen. In der die betuchten Kinder unter sich bleiben und Kinder aus schwierigeren Verhältnissen keine Chance zum Aufstieg haben. Es ist die Welt der Vergangenheit, an die er sich klammert. Denn leider liegt der Vizekanzler in der gesamten Frage einem grundlegenden Missverständnis auf: Die Bildungspolitik, für die wir stehen, die ist kein Experiment. Sie fußt auf unzähligen verschiedenen und unabhängigen Quellen, aus denen wir wissen, wie Kinder lernen und wie Bildung funktioniert. Jeder Ausflug in die Bildungsvergangenheit wird genau dieser Ergebnisse bestätigen, weil das zu schlechteren Lernerfolgen, mehr Ungleichheit und zur Verstärkung von Bildungsvererbung führen wird. Das zu wissen und trotzdem zu ein solches „Pädagogik-Paket“ zu beschließen, ist ein Paradebeispiel für ein Experiment. Es wird eindeutig beweisen, dass diese Form der Pädagogik nicht zielführend ist. Die Leidtragenden sind leider die Kinder. Es wäre daher an der Zeit, dass die Regierung die Realität akzeptiert und ihre rechten Retro-Experimente ein für alle mal beendet.